Informationstechnik, Ethik und Gesellschaft

Sommersemester 2016, Universität Siegen

1 – Informationstechnik, Ethik und Gesellschaft

Die jung und verspielt wirkende Informatik ist längst erwachsen geworden, nicht zuletzt erkennbar an ihren Ausdifferenzierungen wie Wirtschafts-, Medizin- oder Umwelt–Informatik – und doch handeln viele ihrer Vertreter wie digital Naive im #neuland. Die Informatik als Disziplin ist sich ihrer sozialen Wirksamkeit durchaus bewusst, sie ist ein Hegemon in der von Informations- und Kommunikationstechnik durchsetzten, ja, konstruierten Welt des modernen Menschen. Mobilität und Uber-Verbot, Redefreiheit und Störerhaftung, Gesundheits-Apps und informationelle Selbstbestimmung; gesellschaftliche Aushandlungsprozesse werden in technischen Entwicklungen sicht- und streitbar. Die Vorlesung »IT und Gesellschaft« möchte den Fokus auf die Verantwortung technisch Handelnder legen und wirft dazu auch und gerade einen Blick auf die postindustrielle Gesellschaft.

2 – Die post-industrielle Gesellschaft

Wer über »Industrie 4.0« spricht, sollte wissen, woher die Versionsnummer kommt. Besonders die Erste Industrielle Revolution sollte eingehend betrachtet werden, um Aussagen über die tatsächliche oder angebliche Vierte Industrielle Revoution zu treffen. Stichworte sind: Dampfmaschine, Kondratieff-Zyklen, Enabling Technologies, Arbeitsgesellschaft, post industrial society.

3 – Von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis

»Wir haben schriftlich von der NSA bestätigt bekommen, dass sie deutsches Recht einhält.« Der damalige Kanzleramtschef Ronald Pofalla nutzte zur Bekräftigung seiner Aussage, der NSA-Skandal sei nun endgültig vom Tisch, unser Verhältnis zur Schrift als Wahrheitsspeicher aus. Besonders in der Wissenschaft nimmt das Buch, ob klösterliches Manuskript oder gedrucktes Massenwerk, eine zentrale Rolle ein. Wie ändert sich dies mit dem Aufkommen des Mediums Universalcomputer? Stichworte: Wissensgesellschaft, Buchdruck, Medientheorie. Personen: Gutenberg, McLuhan, Turing.

4 - Geschichte der Rechentechnik

Der berühmte Werbespot von Apple Computer in der Pause des Super Bowl 1984 markiert das Datum, an dem der »Rechner« als Personal Computer auf unsere Schreibtische gewandert ist. Inzwischen befindet er sich in unseren Hosen-, Jacken- und Handtaschen, bzw. die meiste Zeit an den Ladekabeln. Die Geschichte der Rechentechnik beginnt schon früher, letztes Jahr feierte die Informatik »the world’s first programmer« und meinte damit Ada Lovelace, die vor 200 Jahren mathematische Anmerkungen verfasste, die wir rückblickend als Beschreibung eines Programmablaufs lesen.

Das Wissenschaftsjahr 2016 ist Leibniz gewidmet, der vor 300 Jahren verstarb. Das Bild der Schöpfung ist dyadisch (binär), freute sich der Universalgelehrte. Mehr noch, mit Hilfe von Algorithmen und anderen Rechenvorschriften können wir bei Meinungsverschiedenheiten einfach ausrechnen, wer denn Recht habe. Calculemus!

Der Hinweis auf Ada Lovelace und Gottfried Leibniz soll deutlich machen, dass die Geschichte von Rechentechnik früh anfängt. In den hier angehängten Medien hören und sehen wir Pioniere unserer Schönen Neuen Welt.

5 - Cybernetics and Society

Das Präfix »Cyber-« ist in aller Munde. Ob Cybertechnisches System, Cyberkrieg oder, ein Klassiker, der Cyberspace. Die wenigsten Sprecher wissen um die Etymologie dieser inzwischen leeren Phrase. Ein paar denken natürlich an Cybernetics, von dem das Präfix ja auch stammt, aber sie denken nicht an »Kybernetik«, weil Ihnen das deutsche Wort zu altbacken klingt. Dabei lohnt gerade jetzt im Zeitalter des portablen und jederzeit vernetzten Universalcomputers in Hosentaschen, Fabriken und Fahrzeugen ein Blick in die Anfänge der interdisziplinären, ja, supradisziplinären Herangehensweise.

6 - Informationelle Öffentlichkeit

Bekannte Blogger nennen es den Energiesparmodus der Zeitungsbranche, andere nennen es drastischer Zeitungssterben, doch wie dem aus sei: Wir sind mitten in einem sehr tiefgreifenden Wandel der medialen Öffentlichkeit. Die gedruckte Zeitung als Basis einer Öffentlichkeit, die einst als vierte Gewalt (»fourth estate«) verdächtigt wurde, hat sich schon lange dem (Privat-)Fernsehen ergeben, aber auch dessen Strahlkraft lässt nach. Das Internet, obwohl erst seit gut fünfzehn Jahren kommerziell und öffentlich zugänglich, scheint zur medialen Basis der Selbstverständigung der politischen und kulturellen Öffentlichkeit oder besser Öffentlichkeiten zu werden.

Im Internet gibt es jedoch keinen anonymen Broadcast, jede aufgerufene Website wird protokolliert. E-Book-Reader notieren penibel, auf welcher Seite man sich wie lange aufgehalten hat, das Buch liest zurück. Diese nun öffentlich zugänglichen Daten wecken Begehrlichkeiten bei Geheimdiensten und anderen nicht demokratisch legitimierten Datenhehlern.

Edward Snowden hat im Juni des Jahres 2013 den bislang größten Angriff auf die Öffentlichkeit bekannt gemacht. Er ist ein metaphysischer Rundumschlag, er stellt das Prinzip der Öffentlichkeit infrage (Geheimgerichte, kafkaesque Ermittlungen), erodiert ihr Fundament (informationelle Freiheitsberaubung) und demontiert ihre institutionalisierten Ausprägungen (Überwachung von Amtsträgern, geschwärzte Antworten im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags) — ganz zu schweigen von der systematischen Unterminierung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme auf allen Ebenen der Vermittlung der öffentlichen Meinung.

7 - Militärische Informationstechnik

Was ethisches Verhalten im Krieg angeht, so bietet die Menschheitsgeschichte ein insgesamt eher trauriges Bild. Grausamkeiten auf dem Schlachtfeld entstehen oft dadurch, dass Menschen Fehlentscheidungen treffen oder in Ausnahmesituationen irrational handeln.

Mit der Entwicklung der Informationstechnologie in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch die Militärtechnik weiterentwickelt.

Daher bewegt sich militärische Informationstechnik aktuell zwischen herkömmlicher IT und Ansätzen von Science Fiction. Der bisherige IT-Einsatz der deutschen Bundeswehr geht von ERP-Systemen über die schlichte digitale Kommunikation bis hin zu autonomen Systemen wie Robotern oder Drohnen.

Doch können autonom handelnde Gefechtssysteme ethisch und moralisch korrekte Entscheidungen treffen? Wer trägt die Verantwortung für ihr Handeln? Ist die dargestellte Entwicklung konsequent und nötig in Betracht des technischen Fortschritts oder menschenfeindlich und moralisch unvertretbar? In den hier zur Verfügung gestellten Materialien werden beide Haltungen eingenommen und argumentiert.

8 - Verantwortung

Technische Systeme sind in nahezu allen Lebensbereichen des modernen Menschen sichtbar: Kein Arbeitsplatz ohne Computer, kein Kneipenbesuch ohne Smartphone, keine Bundestagsdebatte ohne Tablet. Diese Allegenwärtigkeit zwingt uns, die technische Disziplin Informatik neu zu betrachten. Ihr Gegenstand ist also der Mensch, aus der isolierten Wissenschaft ist eine interdisziplinäre geworden, die sich ihrer sozialen Wirksamkeit bewusst geworden ist.

Das technische Handeln eines Individuums kann einen großen Einfluss auf die Gesellschaft haben. In der Konsquenz daraus sind Informatiker bereit, Verantwortung für die Folgen ihres technischen Handelns zu übernehmen. Doch was heißt das, Verantwortung übernehmen?

Hinter dem scheinbar einheitlichen Begriff »Verantwortung« verbergen sich mehrere Deutungen. Betrachten wir die tatsächlich eingetretenen Folgen einer technischen Handlung, verstehen wir unter Verantwortung etwas Ähnliches wie Haftung. Folgen Informatiker dem Rat von Hans Jonas, werden sie mögliche Folgen ihres Handelns bereits vor deren Eintreten abwägen. Der Mensch besitzt kein gesichertes Wissen um die Zukunft, kann also auch nicht vorhersagen, welche Folgen sein technisches Handeln bewirkt oder in welchem Ausmaß. Aber dass es Folgen hat, weiß der homo faber, und deshalb trägt er Verantwortung.

Nun möchte der Informatiker aber nicht nur Verantwortung übernehmen, er hat den Anspruch, ethisch richtig zu handeln. Ethisches Handeln im technischen Bereich besitzt zwei Dimensionen durch die zweifache Herleitung aus dem griechischen èthos einerseits, das Charakter bedeutet und éthos andererseits, das Sitte meint. Abgeleitet von èthos meint ethisch richtig Handeln, sorgfältig zu arbeiten und mit der ganzen Aufmerksamkeit bei seinem Werk zu sein. Ethik verstanden als Ableitung von éthos fordert vom technisch Handelnden, die unterschiedlichen Lebensweisen aller Menschen zu achten und darüber hinaus nichts Geringeres, als für die Permanenz echten menschlichen Lebens Sorge zu tragen.

9 - Mobilität

In der heutigen Gesellschaft nimmt der technische Fortschritt einen wesentlichen Bestandteil ein und gewinnt damit zunehmend an Bedeutung. Technik wird immer leistungsfähiger und liefert uns vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Vor allem durch die Künstliche Intelligenz und die rasante Technikentwicklung wächst die Diskussion rund um autonome Maschinen. Ein wesentliches Interessengebiet liegt dabei auf autonome Fahrzeuge. Neben vielen positiven Faktoren, warten noch viele unbeantwortete Probleme auf eine Lösung. Potenzielle Gefahren bestehen hierbei insbesondere in der böswilligen Fremdsteuerung durch Hackerangriffe und den aufkommenden moralischen und rechtlichen Fragen.

10 - Faire Computer

Warum gibt es fair-trade-Kaffee, aber keine fair-trade-Kaffeemaschine? Das Thema »Faire Computer« ist medial unterbelichtet, obwohl es für die Informationsgesellschaft zentral sein sollte. Wie wollen wir als Gesellschaft leben, welche Erleichterungen bringt uns die Technik? Über die negativen Folgen der Globalisierung wird zwar diskutiert, nicht zuletzt im Internet und den so genannten »social media« – die Medien und Kommunikationsmittel zur Kritik, also Laptop, Server und natürlich smart phones, sind hingegen nicht selbst Gegenstand der Diskussion.

11 - Zuverlässigkeit

Softwarekrise? Welche Softwarekrise? Seit der berühmten Nato-Konferenz in Garmisch-Partenkirchen (1968) haben wir immerhin ein Wort für die unbequeme Tatsache, dass Software so komplex geworden ist, dass sie von einem einzelnen Menschen nicht verstanden, geschweige denn gewartet werden kann. Die Ursachen der unzuverlässigen Systeme liegen tief und können nicht einfach durch Methoden des Software Engineering beseitigt werden. Jedes Programm ausführende System hat Fehler, seien es Software- oder Hardwarefehler. Was bedeutet dies für unser kulturelles Erbe, das inzwischen vermehrt in digitaler Form vorliegt? Diese Frage — und mögliche Antworten nebst Problemlösungsversuchen — werden wir sicher in der Abschlussdiskussion aufgreifen.